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puhin.jpg (200×100)Ausgabe #7 Oktober 2010


OTRAS MIRADAS POSIBLES. 

MANIFESTACIONES DE AMOR. SOMOS UNA DE ELLAS.

Was haelt das Auge aus?
Soziale Kunst und ihre Umgebung


Felix, 56 Jahre alt, graue Haare, dicke Brille, schiefe Zaehne, zusammengekniffener Mund, dicklich. Er kommt nur einmal in der Woche, weil er donnerstags nicht kann. Spielen will er nicht, Theater mein ich, dafuer Gitarre. Gitarre spielt er so, dass mir beim ersten Mal die Traenen kommen und ich hoffe, mich sieht keiner der anderen neunundzwanzig. Felix sitzt da oben auf der Buehne, seine ganze Erscheinung bricht mit unseren Konventionen, unseren Idealvorstellungen. Seine Musik geht direkt zu Herzen. Trifft den Kern. Ich heule und bin konfrontiert mit meinen eigenen Ambitionen, wenn ich auf der Buehne stehe, mit meinen Vorstellungen, wie jemand sein muss, damit er da oben eine Berechtigung hat. Und da ist Felix. So wie er ist. Mit dem was er kann.

Daraus ist ein Projekt entstanden in Quart de Poblet, einem Vorort von Valencia, ein Treffen von dreissig Menschen mit Behinderung und uns zwei, Hernan Cacace und mir, Johanna Delago: Manifestaciones de Amor. Somos una de ella.
Jeweils eine Stunde dienstags und donnerstags von Maerz bis Juni haben wir uns getroffen. Am Anfang waren wir Fremde mit vielen Plaenen und Vorstellungen in unseren Koepfen. Bald haben wir gemerkt, dass alle diese Konstrukte uns die Sicht nehmen fuer das, was wirklich ist, wer die Menschen sind und was daraus entstehen kann. Denn solange wir unsere Ideen ueber sie stuelpen, nehmen wir ihnen die Moeglichkeit, selbst kreativ zu sein, zu entdecken, wer sie sind und was sie koennen.  Der Verein der Eltern hatte uns zu Beginn zwei Bedingungen gestellt: dass alle dreissig zusammen bleiben, d.h., dass keine Trennung zwischen Guten und Schlechten vorgenommen wird und, dass sie Spass haben an den Theaterstunden.  Ansonsten hatten wir freie Hand fuer die Auffuehrung im Juli. Wir haben uns diese Freiheit genommen und sie der Gruppe gegeben. Anstatt auf ein Endprodukt hinzuarbeiten, ist jede Stunde zu einer Begegnung geworden, auch die Auffuehrung.
Es war ein Lernprozess fuer uns alle, denn auch Menschen mit Behinderung haben Vorstellungen, ueber sich, ueber das, was sie koennen und duerfen. Sie werden tagtaeglich mit ihrem “Anderssein” konfrontiert, durch die Blicke, die wir “Normalen” ihnen zuwerfen, durch die Art, wie wir mit ihnen umgehen, durch den Ort, den wir ihnen in der Gesellschaft geben. Sie fuegen sich diesen Einschraenkungen und leben in der ihnen zugewiesenen Nische. Kontaktpunkte mit der anderen Welt gibt es wenige und die wenigen sind ganz klar definiert. So wie zum Beispiel die Theaterauffuehrung. Ein Abend, an dem die Welten sich streifen. Der Rahmen ist abgesteckt. Und der Inhalt? Darf alles sein? Ist alles erlaubt? Oder muss alles in die dafuer vorgesehene Schublade passen, damit die Subventionen weiter fliessen und Eltern und Verwandten zufrieden sind? Interessiert es irgendwen, wer da oben auf der Buehne steht und was diese Menschen zu sagen haben? Hier beginnen die Welten aufeinander zu prallen. Haelt das Auge des Zuschauers es aus, das zu sehen, was ist? Ohne Verschoenern, Verpacken, Verstecken.
Wir haben uns auf die Probe gestellt, als Leiter des Kurses, als Teilnehmer, als Eltern, als Zuschauer, als Politiker, als soziale Kunst und ihre Umgebung. Ist soziale Kunst frei? Darf wirklich etwas passieren mit den Menschen, die daran teilnehmen? Oder ist sie eine Farce, ein Vorzeigeschild fuer Politiker und Eltern?
Die Antworten sind vielschichtig.
Das Projekt hat auf jeden Fall Wellen geschlagen: in meinem eigenen Leben, der Art wie ich  Dinge sehe, wie ich ins Theater gehe und wie ich performe Fuer die Menschen mit Behinderung selbst, denn sie haben das ganze Stueck selbst geschaffen. Wir haben ihnen den Rahmen und die Werkzeuge dafuer bereit gestellt, den Rest haben sie gemacht. Ideen, Szenen, Texte, Lieder, usw. sind von ihnen gekommen. Sie haben sich und ihre Faehigkeiten entdeckt. Sie sind ueber das gewohnte und bekannte Bild, das sie von sich selbst haben, hinausgegangen und damit haben sie auch ihre Eltern ueberrascht. Die Eltern haben ungeahnte Seiten und Potentiale in ihren Kindern gefunden und waren erstaunt. Was bei den Politikern angekommen ist, weiss ich nicht. Macht auch keinen grossen Unterschied aus, denn wir sind, wie uns allen eingetrichtert wird in einer Krisenzeit und die Gelder werden sowieso gekuerzt! Essentiell an dem Projekt ist, dass sich unsere Leben veraendert haben, sie sind freier und reicher geworden. Wir wissen, dass andere Sichtweisen moeglich sind.

7.12


puhin.jpg (200×100)AUSAGABE #5 Jaenner 2010


Dezember 2007, Bahnhof Zuerich. Lichtermeer, Weihnachtsmusik, Menschenstroeme, dazwischen riesige Plakate der Caritas Schweiz. Kindergesichter sind darauf abgebildet, dunkle Haut, grosse Augen und darunter der Satz: HUNGER TOETET.
UEBERFLUSS AUCH. Schiesst es mir augenblicklich in den Kopf.

WELCHEN TOD STERBEN WIR IM UEBERFLUSS? WAS UEBERFLUTEN WIR? WORAN MANGELT ES?

Jeder Mensch hat Beduerfnisse. Diese Beduerfnisse kann man in unterschiedliche Kategorien fassen. Der Mensch hat biologische Beduerfnisse nach Luft, Wasser, Nahrung, usw. Weiters hat er Schutzbeduerfnisse wie zum Beispiel nach Geborgenheit und Naehe. Er hat soziale Beduerfnisse wie jene nach Zugehoerigkeit, Gemeinschaft, Achtung und Ansehen. Der Mensch hat auch das angeborene Beduerfnis nach einer sinnvollen Taetigkeit und nach Selbstverwirklichung (vgl. Beduerfnispyramide nach Abraham Maslow).

Betrachten wir diese Palette an menschlichen Beduerfnissen wird klar, dass der Mensch ein vielseitiges und vielschichtiges Lebewesen ist. Die rein materielle Befriedigung der biologischen Grundbeduerfnisse stellt zwar die Vorraussetzung fuer das menschliche Ueberleben dar, genuegt aber nicht zum Leben selbst. Studien an Babies zeigen dies sehr deutlich: Babies die nur ernaehrt wurden, jedoch keine andere Art von Beachtung erhielten starben innerhalb kurzer Zeit (vgl. Bauer: Prinzip Menschlichkeit). Das gleiche gilt fuer ausgewachsene Menschen. Der physische Tod tritt spaeter ein, da sie kraeftiger sind, doch innerlich sterben auch sie bei zu geringer Beachtung.
Stillen wir unsere Beduerfnisse nicht bleibt ein Gefuehl des Mangels in uns. Etwas fehlt. Jeder kennt z.B. die Empfindungen von Hunger oder von Durst. Wie aeussern sich die Maengel in anderen Bereichen, die nicht an biologische Grundbeduerfnisse gekoppelt sind? Erkennen wir sie? Wie stillen wir sie? Oder stopfen wir diese Loecher mit materiellen Guetern?
Nehmen wir an es ist so: du hast das Beduerfnis nach Beachtung, erkennst es nicht, weisst es nicht zu deuten und stillst diesen Mangel mit Nahrung. Du isst. Du hast ein Surrogat gefunden. Nur wird diese Ersatzbefriedugung nie ausreichen um dein eigentliches Beduerfnis nach Beachtung zu stillen. Du kannst dich noch so voll stopfen, der Mangel bleibt. Deine Not waechst. Du ueberflutest sie mit einem Surrogat und sie wird groesser. Mit der Zeit gibst du den Kampf auf, du betaeubst dich, (um diesen inneren Hunger nicht zu spueren) so sehr, dass du dich wie in einer Totenstarre befindest. Das Leben zieht an dir vorbei. Du frisst dich in den Tod.

Der Mensch muss anerkennen, dass er ein Wesen der Fuelle ist, er hat viele Seiten und somit auch viele Beduerfnisse. Es nicht genung nur materielle Beduerfnisse zu stillen. Es ist nicht gesund materielle Gueter zu verwenden um seelische, soziale und wesenseigene Beduerfnisse zu stillen. Es toetet den Menschen selbst und laesst ihn wie einen ausgehungerten Zombie herumlaufen getrieben vom Mangel und der Ueberflutung zugleich.
Das zu wenig und das zu viel an Materie kann den Menschen toeten. Einmal stirbt er einen physischen Tod, das andere Mal stirbt sein Wesen, da es nicht richtig genaehrt wird und gleichzeitig erstickt wird durch einen unnoetigen Ersatz.
HUNGER TOETET. UEBERFLUSS AUCH.